Die Mietenproteste der vergangenen Jahre haben es an Licht gebracht. Berlin hat ein Problem. Ein Mietenproblem. Ob neuer Mietspiegel, Wohnungsangebote oder Sozialmieten, der Trend
kennt nur eine Richtung: Nach oben. Von Immobilienverbänden, bestellten Experten und Politikern kommen immer wieder Verweise auf die noch höheren Preise in anderen Großstädten und eine angeblich historisch bedingte und nur vorübergehende Marktanpassung.
Doch entscheidend für die wohnungspolitische Beurteilung eines Wohnungsmarktes sind nicht Vergleiche zu anderen Städten sondern die Qualität der Versorgungsfunktion für städtische Haushalte. In einer Mieterstadt wie Berlin, in der 85 Prozent aller Haushalte zur Miete wohnen, muss der Mietwohnungsmarkt das volle Spektrum der sozialen Lagen versorgen. Entsprechend groß wird dabei der Druck auf die Armen der Stadt. In der Konkurrenz mit zahlungskräftigen Mittelschichtshaushalten haben sie in der Regel das Nachsehen. Die Defizite der sozialen Wohnungsversorgung haben sich durch die Wohnungsmarktdynamik und die regressive Wohnungspolitik der letzten Jahre drastisch ausgeweitet. Angetrieben von einer steigende Ertragserwartung privater Eigentümer und Investoren werden die Spielräume für Haushalte mit geringen Einkommen sowohl im Bestand als auch im Angebot des Berliner Mietwohnungsmarktes immer kleiner.
Wohnungsversorgung: Massives Defizit an leistbaren Wohnungen
Die Wohnungsversorgungqualität einer Stadt misst sich daran, ob es gelingt, auch Haushalte mit geringen Einkommen mit angemessenen Wohnungen zu versorgen. Die aktuellen Einkommensstatistiken Berlins weisen 18 Prozent aller Haushalte als armutsgefährdet aus. Darunter gefasst werden alle Haushalte, die mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens auskommen müssen. In Berlin betrifft das nach aktuellen Daten der Einkommensstatistik fast 380.000 Haushalte. Berücksichtigen wir die unterschiedlichen Haushaltsgrößen, sind es immer noch fast 260.000 Haushalte die mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze auskommen müssen.
Die größte Gruppe darunter stellen die 143.000 Ein-Personen-Haushalte, die mit weniger als 705 Euro im Monat über die Runden kommen müssen. Wer nur geringe Einkommen erzielt, kann weniger Miete zahlen. Ausgehend von einer maximalen Wohnkostenbelastung durch die Nettokaltmiete von 30 Prozent, können diese armen Ein-Personen-Haushalte maximal 211 Euro im Monat für die Miete ausgeben. Hinzugerechnet werden müssen dabei die Betriebs-, Heiz- und Energiekosten, so dass den meisten kaum der Regelsatz von Hartz IV zum Leben bleibt. Gestehen wir den Haushalten zumindest einen durchschnittlichen Wohnflächenverbrauch von 38,8 Quadratmetern zu, liegt der Grenzwert der leistbaren Nettokaltmiete bei maximal 5,42 Euro/qm.
Armutsgefährdete Haushalte und ihre Mietzahlungsfähigkeit in Berlin, 2013 |
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Haushalte in Berlin |
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gesamt |
1 Personen |
2 Personen |
3 Personen
|
4 und mehr |
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2.030.500 |
1.102.700 |
588.000 |
186.400 |
153.300 |
Durchschnittliches mtl. Einkommen in Euro |
1.650 € |
1.175 € |
2.275 € |
2.625 € |
2.950 € |
Armutsgrenze (60%) |
990 |
705 |
1.365 |
1.575 |
1.770 |
Anzahl armutsgefährdeter Haushalte |
258.500 |
143.000 |
75.800 |
25.400 |
14.300 |
Anteil armutsgefährdeter Haushalte |
12,7% |
13,0% |
12,9% |
13,6% |
9,3% |
Maximale Mietzahlungsfähigkeit (30% des EK)
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211 € |
409 € |
472 € |
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5,42 €/qm |
5,85 €/qm |
5,91 €/qm |
5,90 €/qm |
Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigenen Berechnungen
Eine zentrale sozial- und wohnungspolitische Frage ist, ob es nach Preis und Größe überhaupt genügend angemessene Wohnungen für die armutsgefährdeten Haushalte gibt. Ein Blick auf die Grundgesamtheit der Mietspiegeldaten von 2013 gibt einen ersten Überblick.
Armutsgefährdete Haushalte und leistbare Wohnungen in Berlin, 2013 |
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Haushalte in Berlin |
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gesamt |
1 Personen
|
2 Personen
|
3 Personen
|
4 und mehr
|
Anzahl armutsgefährdeter Haushalte |
258.500 |
143.000 |
75.800 |
25.400 |
14.300 |
Anzahl Mietwohnungen gesamt |
1.251.500 |
137.800 |
402.000 |
520.200 |
191.400 |
Anzahl leistbarer Wohnungen im Bestand |
570.148 |
39.587 |
59.278 |
353.426 |
117.857 |
Anteil leistbarer Wohnungen im Bestand |
45,6% |
28,7% |
14,7% |
67,9% |
61,6% |
Verhältnis leistbarer Wohnungen an Bedarf |
|
27,7% |
78,2% |
> 100,0% |
> 100%
|
Defizit leistbarer Wohnungen |
- 119.935 |
- 103.413 |
- 16.522 |
- |
- |
Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Berliner Mietspiegel, eigenen Berechnungen
Nicht einmal 40.000 der knapp 140.000 im Mietspiegel erfassten Kleinstwohnungen weisen Mietpreise aus, die von den armen Einpersonenhaushalten bezahlt werden können. Ganz ohne zu berücksichtigen, dass diese preiswerten Wohnungen möglicherweise auch von anderen Einkommensgruppen nachgefragt werden, fehlen allein für die 143.000 alleinlebenden Armen über 100.000 preiswerte Wohnungen.
Auch für die über 75.000 Zwei-Personen-Haushalten mit Einkommen unterhalb der Armutsschwelle weist der Mietspiegel nur knapp 60.000 zumindest theoretisch leistbare Wohnungen aus. Insgesamt fehlen in der Stadt 120.000 preiswerte Wohnungen und für fast die Hälfte der armutsgefährdeten Haushalte gibt es zurzeit in Berlin keine angemessene und leistbare Wohnung. Für größere Haushalte stellt sich die Preisstruktur des Berliner Mietwohnungsbestandes etwas günstiger dar, obwohl auch hier die Existenz preiswerter Wohnungsbestände nichts über deren Zugänglichkeit für ärmere Haushalte sagt. Viele der Haushalte versuchen, diesen Wohnungsmangel individuell zu kompensieren und mit Überbelegungen und einer massiven Standardabsenkung der Wohnqualität sind Wohnungsfragen des vergangenen Jahrhunderts
heute wieder auf der Tagesordnung der Stadtpolitik. So sind schon jetzt über 75 Prozent (das sind 74.0000 Wohnungen) der von den kleinen Armutshaushalten (mit ein oder zwei Personen) bezahlbaren Wohnungen in den Substandardbeständen zu finden. Die Rückkehr des längst überwunden geglaubte Zwei-Klassen-Wohnens in Berlin verschärft die Wohnungskrise. Sind es doch zugleich die Bestände mit dem größten Modernisierungspotential und dem höchsten Verdrängungsdruck.
Bestandswohnungen: Auflösung des unteren Preissegments
Ein Blick auf die Mietspiegeldaten des letzten Jahrzehnts zeigt einen bestandsweiten Anstieg der Mietpreise. Seit 2003 sind die Bestandsmieten in ihrer Gesamtheit um 29 Prozent gestiegen. Die Durchschnittsmiete der Mietspiegelmittelwerte hat sich dabei von 4,19 Euro/qm auf 5,39 Euro/qm erhöht. Für eine durchschnittliche Wohnungsgröße (65 Quadratmeter) entspricht das einer Steigerung der Nettokaltmiete von 272 auf 350 Euro. Hinzu kommen für die Haushalte deutlich gestiegene Belastungen im Bereich der Betriebs-, Heiz- und Energiekosten. Die Mietsteigerungsdynamik erfolgt dabei nicht einheitlich, sondern betrifft vor allem die Baualtersgruppen mit den günstigsten Mietangeboten.
Mietentwicklungen nach Baualterklassen (Mietspiegel 2003 bis 2013) |
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Mittelwerte des Mietspiegels in Euro/qm |
Veränderung 2003-2013
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Baualterklasse |
2003 |
2005 |
2007 |
2009 |
2011 |
2013 |
Bis 1918 |
3,82 |
3,98 |
4,19 |
4,32 |
4,90 |
5,27 |
38% |
1919 - 1949 |
3,86 |
4,13 |
4,47 |
4,62 |
5,03 |
5,33 |
38% |
1950 – 1955 |
3,93 |
4,41 |
4,70 |
4,87 |
5,18 |
5,25 |
34% |
1956 – 1964 |
4,06 |
4,26 |
4,68 |
4,71 |
5,17 |
29% |
1965 – 1972 |
4,79 |
4,77 |
4,94 |
4,83 |
5,08 |
5,15 |
8% |
1973 - 1983 (West) |
6,20 |
6,20 |
5,03 |
6,35 |
6,64 |
6,62 |
7% |
1984 - 1990 (West) |
7,31 |
7,07 |
6,76 |
6,52 |
6,40 |
-9% |
1973 - 1990 (Ost) |
4,06 |
4,50 |
4,79 |
4,78 |
4,99 |
5,12 |
26% |
Nach 1991 |
7,48 |
6,83 |
6,31 |
6,68 |
7,05 |
7,34 |
-2% |
Gesamt |
4,19 |
4,40 |
4,62 |
4,74 |
5,15 |
|
29% |
Mietspiegel, 2003 bis 2011 (Grundgesamtheit), eigene Berechnungen
Während in den teuersten Baualtersgruppen, also den in Westberlin zwischen 1973 und 1989 errichteten Wohnungen und den Nachwende-Neubauten die Mittelwerte im Vergleich zu 2003 stagnieren oder sogar leicht
rückläufig sind, weisen die preiswertesten Bestände die höchsten Steigerungsraten auf. So sind die Durchschnittsmieten in den Gründerzeitbauten (vor 1918 errichtet) und den Zwischenkriegssiedlungen (1919 bis 1949) um jeweils fast 40 Prozent gestiegen. Umgerechnet auf eine Durchschnittswohnung (65 Quadratmeter) entspricht das einer Erhöhung der Nettokaltmiete von 248 auf 342 Euro.
Mit der ungleichen Mietsteigerungsdynamik hat sich die geringe Preisdifferenzierung des Berliner Mietwohnungsmarktes weiter verringert. Lagen 2003 immerhin noch 3,66 Euro/qm zwischen der preiswertesten und
teuersten Baualtergruppe, sind es zehn Jahre später nur noch 2,22 Euro/qm. Was zunächst wie eine gute Voraussetzung für eine sozialräumliche Verteilung ohne Konzentrationseffekte armer Haushalte in bestimmten Bestandgruppen klingt, bedeutet in der Konsequenz vor allen die faktische Auflösung eines preiswerten Wohnsegmentes.
Aus einer gesamtstädtischen Perspektive alarmierend ist dabei die Entwicklung der Ostberliner Plattenbausiedlungen (1973 bis 1989 Ost). Waren sie mit ihren Mietpreisen noch bis 2009 im gediegenen Mittelfeld der Baualtersgruppen, werden sie trotz erheblicher Steigerungen in den vergangenen Jahren im Mietspiegel 2013 erstmals als preiswerteste Bestandsgruppe ausgewiesen. Wenn es stimmt, dass die ärmsten Haushalte regelmäßig in die preiswertesten Bestände gedrängt werden, verweist der aktuelle Mietspiegel auf eine künftige Randwanderung der Armut in Berlin. Die Altbaubestände boten seit Jahrzehnten zuverlässig die preiswertesten Mietpreise und haben Berlin vor den Pariser Verhältnissen einer Peripherisierung der Armut bewahrt.
Angebotsmieten: Arme praktisch ausgeschlossen
Noch dramatischer stellt sich die Situation der armutsgefährdeten Haushalte mit Blick auf die Wohnungsangebote dar. Eine Abfrage von Mietwohnungsangeboten in Berlin ergab, dass nur ca. 1.400 von über 17.000 inserierten Wohnungen für Haushalte mit geringen Einkommen überhaupt in Frage kommen. Für die schon im Bestand dramatisch unterversorgten Ein-Personen-Haushalte mit monatlichen Einkommen von weniger als 705 Euro gibt es stadtweit ganze 11 Wohnungsangebote. Das sind lediglich 0,2 Prozent der knapp 6.000 Wohnungsangebote von Ein- und Zweizimmer Wohnungen unter 50 Quadratmeter.
Armutsgefährdete Haushalte und Mietwohnungsangebote in Berlin, 2013 |
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Haushalte in Berlin |
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gesamt |
1 Personen
|
2 Personen
|
3 Personen
|
4 und mehr
|
Anzahl |
2.030.500 |
1.102.700 |
588.000 |
186.400 |
153.300 |
Anzahl armutsgefährdeter Haushalte |
258.500 |
143.000 |
75.800 |
25.400 |
14.300 |
Maximale Mietzahlungsfähigkeit (30% des EK)
|
|
211 € |
409 €
|
472 €
|
531 €
|
Anzahl Mietwohnungsangebote |
17.195 |
5.978 |
6.194 |
3.673 |
1.350 |
Anzahl leistbarer Wohnungen im Angebot |
1.436 |
11 |
755 |
524 |
146 |
Angebot 1.436 11 755 524 146 |
8,3% |
0,2% |
12,9% |
14,3% |
|
Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, ImmoScout 24, eigenen Berechnungen
Die räumliche Struktur der Wohnungsangebote verweist zudem auf eine wachsende Regionalisierung des Marktes. Insbesondere die über 300.000 Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften bekommen den Druck einer ungleichen Stadtentwicklung zu spüren. Im Wohnungsangebot sind ganze Stadtteile in der Innenstadt praktisch schon jetzt Hartz-IV-freie Zonen. So lagen beispielsweise im gesamten Jahr 2011 in Prenzlauer Berg nur 2,6 Prozent aller Wohnungsangebote unterhalb der Bemessungsgrenzen für die Kosten der Unterkunft, die von den Jobcentern übernommen werden. Zum gleichen Zeitpunkt waren es in Marzahn etwa 85 Prozent. Steigende Mieten und repressive Sozialgesetzgebung verstärken sich dabei gegenseitig zu einem Segregationsmotor.
Soziale Wohnungsbestände: Fehlanzeige
Auch die durch die Privatisierungsorgien der 1990er und frühen 2000er Jahre auf 270.000 Wohnungen geschröpften Bestände der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und die etwa 140.000 Sozialwohnungen aus früheren Förderperioden erfüllen den Wohnungsbedarf für preiswerte Wohnungen nicht. Die Rechnung ist relativ simpel: Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen brauchen Wohnungen zu unterdurchschnittlichen Mietpreisen. Solange Sozialmieten über dem städtischen Durchschnitt – und vielfach sogar über den Bemessungsgrenzen der Kosten der Unterkunft – liegen und sich kommunale Wohnungsbaugesellschaften am Mietspiegel orientieren, werden Haushalte mit geringen Einkommen auf der Strecke bleiben.
Der private Mietwohnungsmarkt in Berlin verweist bei der Versorgung von Haushalten mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze auf ein systematisches Marktversagen. Eine soziale Wohnungspolitik muss sich jedoch an der angemessenen Versorgung eben jener Haushalte messen lassen. Neben einem Bestandsschutz der wenigen preiswerten Wohnungsmarktsegmente sind hier vor allem Strategien für die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und die Restbestände des Sozialen Wohnungsbaus gefragt.