Sigmar Gude, TOPOS/Stadtplanung Landschaftsplanung Stadtforschung
Neubau ist nicht die Lösung

Warum Wohnungsneubau die Wohnungsversorgung der Menschen mit niedrigen Einkommen zur Zeit nicht sichern kann.

Das gegenwärtige Problem auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist nicht nur ein Problem der Gesamtmenge der zur Verfügung stehenden Wohnungen. Eine besondere sozialpolitische Zuspitzung erfährt die Situation durch das wachsende Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage im unteren Wohnungsmarktsegment. Dem können Neubauten mit höheren Ausgangsmieten nicht abhelfen, sondern dafür wird eine gezielte Strategie zur Erhöhung des Angebots an preiswerten Wohnungen benötigt.
Die Zuspitzung auf dem Berliner Wohnungsmarkt hat eine Reihe von unterschiedlichen Ursachen, die in ihrem Zusammenwirken das Problem ausmachen, und die deshalb bei einer Problemlösung zusammen beachtet werden müssen. Die Ursachen sind einmal auf der Seite der Nachfrage nach Wohnraum
1 In 2012 um ca. 50.000.

Auf der Seite des Wohnungsangebots:

2 Ein besonders eindringliches Beispiel ist Nordneukölln. Noch 2007 ein Gebiet mit deutlich unterdurchschnittlichen Mieten mit bezahlbaren Wohnungsangeboten für Niedrigverdiener und Migranten deutlich unter dem Mietspiegel werden jetzt bei Neuvermietungen fast so hohe Mieten gefordert wie in den Nachbarbezirken, die deutlich über dem Mietspiegel liegen.

Die beiden zuletzt genannten Punkte betreffen besonders die Altbauwohnungen. Dies ist deshalb besonders gravierend, weil die Altbauwohnungen in der Vergangenheit die zweite Säule bei der Versorgung von Haushalten mit unterdurchschnittlichen Einkommen mit preiswerten Wohnungen neben den Sozialwohnungen und den städtischen Wohnungen waren.

Allerdings war selbst Anfang des vorigen Jahrzehnts, als es einen Wohnungsleerstand gab, das untere Wohnungsmarktsegment nicht entspannt. Das hatte eine vom Senat selbst in Auftrag gegebene Studie gezeigt. Weil in etwa der Hälfte des preiswerten Bestandes Mieter mit höheren Einkommen wohnten, fehlten selbst damals ca. 200.000 preiswerte Wohnungen. Inzwischen ist die Relation weitaus ungünstiger wegen der bereits genannten deutlichen Verringerung der preiswerten Bestände. Die Zahl der Nachfrager mit geringen Einkommen hat sich dagegen nicht verändert, weil im letzten Jahrzehnt die Einkommenszuwächse der Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen unterhalb der Inflationsrate lagen.

Damit zeigt sich, dass auf dem Berliner Wohnungsmarkt zwei Problemkomplexe bestehen:

Die Wohnungsproblematik bekommt man nur dann in den Griff, wenn beide Problemkomplexe angegangen werden. Analysiert man von dieser Zielsetzung ausgehend die Initiativen und Pläne des Berliner Senats, so fällt die Konzentration auf den Neubau ins Auge. Zwar wurden auch andere Initiativen ergriffen, wie das Mietenbündnis mit den städtischen Wohnungsbaugesellschaften, die Reaktivierung des Zweckentfremdungsverbots, und die Begrenzung des Mietanstiegs im Bestand und bei der Neuvermietung3

3 Hier könnte die in den Koalitionsverhandlungen angedachte Begrenzung der Neuvermietungsmieten eine reale Hilfe darstellen.
. Auch der stärkere Einsatz der sozialen Erhaltungsverordnung (‚Milieuschutz’) stellt eine gewisse Hilfe dar. Allerdings wird dieses Instrument nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, durch den Einsatz einer Umstrukturierungsverordnung zur Begrenzung der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen und Nutzung des Vorkaufsrechts so weit verstärkt, dass dauerhaft wirksame Eingriffe möglich sind. Diese Maßnahmen, so sinnvoll sie auch sind, lösen aber das dargestellte Problem des Fehlbestandes im unteren Wohnungsmarktsegment nicht. Dadurch wird zwar die weitere Abnahme verringert, aber weder eine langfristige Sicherung noch gar eine Bestandserhöhung erreicht.

Der Berliner Senat setzt nun bei der Lösung des Wohnungsproblems auf ein Neubauprogramm. Das könnte für die beiden genannten Problembereiche, Mangel an Wohnungen insgesamt und Mangel an Wohnungen im unteren Segment, nur dann gleichermaßen wirksam sein könnten, wenn auch in größerem Maße als jetzt geplant, Neubauten mit niedrigen Mieten erstellt würden. Da dies nur mit öffentlicher Unterstützung im Rahmen eines ‚neuen’ sozialen Wohnungsbaus möglich wäre und der Senat bestenfalls geringe, für das Problem bei weitem nicht ausreichende Mittel dafür bereitstellen will, kann auf diesem Weg die Lücke im unteren Wohnungsmarkt nicht geschlossen werden.

Der Senat und seine Berater sehen das anders und behaupten, auch Wohnungsbau mit hohen Mieten käme direkt auch den unteren Einkommen zugute. Dabei stützen sie sich auf eine auch in der Fachwelt sehr umstrittene These, die ‚Sickertheorie’4

4 Zuletzt hat sich der Leiter des ‚Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu)’ gegen die ‚Sickertheorie’ ausgesprochen.
. Die geht von der Annahme aus, dass durch einen Neubau mit einer Miete im oberen Mietpreissegment eine Umzugskette in Gang gesetzt würde, die letztlich auch einem armen Mieter eine bezahlbare Wohnung beschaffe. Das soll so ablaufen: Ein reicher Mieter zieht in die neue, bestausgestattete Wohnung und macht eine etwas schlechtere Wohnung frei, in die dann wieder ein etwas Ärmerer einzieht usw. bis zuletzt ein Mieter vom unteren Ende der Einkommensskala eine billige Wohnung erhält.

Ohne auf diese Theorie im Einzelnen eingehen zu können, kann gesagt werden:

Schon bei dieser groben Betrachtung zeigt sich, dass die Sicherung einer adäquaten Wohnungsversorgung durch Wohnungsbau nicht zu erreichen ist. Freifinanzierter Neubau kann bestenfalls den Druck auf den Wohnungsmarkt abschwächen. Eine Entspannung im unteren Wohnungsmarktsegment durch Wohnungsbau ist nicht ohne einen hohen Anteil öffentlich geförderter Neubauten möglich. Dies aber wird die finanziellen Möglichkeiten des Senats bei Weitem übersteigen. Es müssen also dringend weitere Initiativen ergriffen werden, den noch bestehenden Bestand an preiswerten Wohnungen zu sichern und auszuweiten. Es ist nicht nur ökonomischer, Bestandswohnungen für die soziale Wohnungsversorgung zu sichern als neu zu bauen. Es könnten zudem diese Bestände auch langfristig preiswert erhalten werden, wenn Ressourcen der Selbstorganisation und Selbsthilfe zusätzlich aktiviert würden. Dazu gehört die Begrenzung der Aufwertung von preiswerten Bestandwohnungen ebenso wie die langfristige Sicherung der letzten noch vorhandenen Sozialwohnungen durch neue Bewirtschaftungsmodelle, die geeignet sind, die unsoziale Mietendynamik der degressiven Abschreibung zu beenden und die Wohnungen auch über den jetzt festgelegten Auslauffristen für eine soziale Wohnungsversorgung zu sichern.

(siehe Kuhnert in dieser Broschüre.)

Die MieterInnen am Kotti - Soziale Lage und Mietbelastung

Die soziale und ökonomische Lage der MieterInnen am Kottbusser Tor, ihre Wohnverhältnisse und Mietbelastungsquoten sind bisher nicht wissenschaftlich untersucht, weil es bisher keine spezielle Sozialstudie zu den betreffenden Wohnblocks gibt. Bekannt ist allerdings, dass die Mieten in den Wohnungen aufgrund der regelmäßigen Erhöhungen im Zuge der degressiven Abschreibung inzwischen über 6 €/m² liegen. Während die Mieterinitiative Kotti & Co davon ausgeht, dass die Mehrheit der Bewohner sehr niedrige Einkommen haben, da über die Hälfte der Haushalte von Hartz IV abhängig sei, werden diese Einschätzungen bezweifelt. Nur ein kleinerer Teil sei arm, der größere Teil habe eine Einkommenssituation, die sie in die Lage versetze, die Mieten zu zahlen. Anhand zugänglicher Statistiken lässt sich aber zeigen, dass die Einschätzungen von Kotti & Co plausibel sind. So liegt der Anteil der Hartz IV-Empfänger im Wahlbezirk 207 mit über 40% der unter 65jährigen doppelt so hoch wie der Berliner Durchschnitt, obwohl zu diesem Wahlbezirk speziell mit dem Wohnblock, der durch Planufer, Böckh- und Graefestraße begrenzt wird, Wohnlagen mit überdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen einbezogen sind. Es ist also mit Sicherheit davon auszugehen, dass in den Wohngebäuden aus den 70er Jahren deutlich über die Hälfte der Haushalte von Hartz IV abhängig ist.

Dass auch die Einkommenssituation der übrigen MieterInnen dort deutlich unterdurchschnittlich ist, zeigt sich bei der Betrachtung der ökonomischen Lage der Bewohner in vergleichbaren Wohnungsbeständen, die sich aus den Sozialstudien zum Erhaltungsgebiet Luisenstadt (SO 36) ablesen lässt. Deren Einkommensniveau liegt im Schnitt ca. 15% unter dem Berliner Niveau und damit überwiegend im Bereich der WBS-Berechtigung.

Die Warmmietbelastung dieser Bewohnergruppe – ohne Transferempfänger – beträgt 34%, trotz unterdurchschnittlichen Wohnflächenverbrauchs – oft durch Überbelegung. Das ist über dem Berliner Durchschnitt und deutlich zu viel für Haushalte mit einem derart geringen Einkommen. Auffällig ist dabei, dass nicht nur die Nettokaltmieten in diesen Wohnungsbeständen, sondern auch die kalten Betriebskosten deutlich über dem Gebiets- und dem Berliner Durchschnitt (um 40 Ct./m²) liegen.

MieterInnen am Kottbusser Tor können bereits die jetzigen Mieten nur unter unakzeptablen Einschränkungen ihres sozialen Lebens und der Wohnverhältnisse aufbringen.

Es zeigt sich, dass ohne bewusste, aktive Erhöhung des Bestandes an Wohnungen in einem Mietpreisbereich am unteren Durchschnitt des Berliner Mietspiegels, die Wohnungsversorgung der großen Gruppe der Berliner MieterInnen mit niedrigen Einkommen wie am Kottbusser Tor nicht sichergestellt werden kann. Die schlichte Hoffnung, hochpreisige Neubauten könnten ‚irgendwie’ nach unten durchsickern ist nicht nur falsch sondern fatal.